Teatime
Artworks
Information
please scroll down for the English version.
Beim ersten Anblick der Keramikskulpturen von Sebastian Stöhrer dachte ich an mikroskopische Aufnahmen von Mikroben, Organismen, die so klein sind, dass man sie mit dem bloßen Auge nicht erkennen kann. Aus irgendeinem Grund schien es mir, als könnte es sich um unter Wasser lebende Lebewesen handeln. Als ich sie einige Monate später erneut betrachtete kamen mir Kreaturen aus Science-Fiction-Szenarien in den Sinn. In diesem Fall: Doc Labyrinths Bewahrungsmaschine, mit der sich Musikpartituren in Tiere verwandeln lassen. Es gibt ein Brahmsinsekt und ein Wagnertier und viele andere eigentümliche Organismen, zu Fleisch gewordene Künstlergenies. Philip K. Dick hat diese Maschine erfunden und es ist gut vorstellbar, dass er seine Geschichte mit Stöhrers Figuren hätte illustrieren wollen, wenn er sie gekannt hätte. Seine Fantasiewelten werden gewöhnlich von Lebensformen bevölkert, die den Kategorien, mit denen wir normalerweise das Reich des Lebendigen betrachten, nicht entsprechen. Wie es meistens bei erfolgreicher Science-Fiction der Fall ist, sind diese exzentrischen Wesen nicht nur sonderbar, sondern sie verkörpern auch etwas was für unsere Beziehung zur belebten Welt wesentlich ist: Wir können nicht sagen, warum sie lebendig wirken und wir wissen auch nicht, wo wir die Grenze zwischen lebend und tot ziehen sollen. Diese Unsicherheit verstärkt sich noch in unserer technologisch veränderten Umwelt, die von künstlichen Komponenten durchsetzt ist, die Natur gegeben zu sein scheinen. Wenn es um das Leben geht, gibt es also offenbar keine Gewissheiten. Dieser Gedanke ist Ausgangspunkt einer Reihe jüngerer theoretischer Ansätze, die ein gut eingeführtes linguistisches Paradigma hinter sich lassen, um stattdessen Metaphern aus den Biowissenschaften zu erkunden. So hat der amerikanische Autor Michael Pollan beispielsweise eine neue Pflanzenneurobiologie entwickelt, die zeigt, wie Pflanzen Informationen verarbeiten und ihr Verhalten anpassen, was wiederum impliziert, dass sie lernfähig sind. Das heißt man muss Pflanzen als Akteure betrachten. Sie sind sich offenkundig ihrer Umwelt bewusst. Die Tatsache jedoch, dass die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen so viel langsamer ist als unsere eigene, macht es uns schwer, ihnen diese Bewusstheit zuzuschreiben. Pflanzen sind nicht nur sichtlich lebendig, sie sind sich auf eine Art und Weise ihrer Umgebung bewusst wie es sich wohl nur die Dichter des Symbolismus oder die Philosophen des Vitalismus um 1900 vorzustellen vermochten. Ist dies eine neue Form des Animismus, der sich hier in den Wissenschaften und in der Gegenwartskunst herausbildet? Einige der relevantesten Werke der zeitgenössischen Kunst beruhen auf dem immer wieder zu beobachtenden Bestreben, die Dinge die uns umgeben zu durchdringen, wobei es scheint, als wäre Lebendiges häufig nicht wirklich lebendig und Totes nicht wirklich tot, was dazu führt, dass wir derlei Unterscheidungen grundsätzlich in Frage stellen. Ähnliche Beweggründe verbergen sich sicherlich auch hinter einigen besonders lautstarken philosophischen Denkansätzen unserer Zeit und nicht zuletzt hinter jenen neuen Formen des Materialismus, der unser Denken von der Fixierung auf den historisch überbetonten Bezug zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem bekannten Objekt befreien möchte. Vielmehr, so wird häufig argumentiert, sollten wir uns besser mit anderen ähnlich interessanten und vielversprechenderen Bezügen beschäftigen, die sich aus so vielen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zusammensetzen – technologisch als auch biologisch: etwa digitale Geräte und Quallen, oder intelligente Blumen.
Einige dieser Ansätze werden von Köpfen vertreten, die lange im theoretischen Diskurs keine Rolle mehr gespielt haben, nun aber wieder in gewisser Weise aktuell sind. Ernst Haeckel, ein freidenkender Biologe und Naturforscher, der so grundlegende Begriffe wie Stamm und Ökologie geprägt hat, scheint heute zeitgemäßer als die meisten Theoretiker, die sich mit linguistischen Paradigmen beschäftigen. In den Jahren 1899–1904 veröffentlichte er Kunstformen der Natur, ein Band mit hundert Druckgrafiken von Organismen, zahlreiche davon wurden von Haeckel erstmals beschrieben. Mit diesem Buchprojekt ging Haeckel den damals ungewöhnlichen Schritt von der Wissenschaft zur Kunst. Seine Zeichnungen stellen insofern eine beeindruckende Verbindung zwischen den Disziplinen dar.
Giorgio Agamben hingegen weist in "Mysterium disiunctionis", dem zentralen Kapitel eines kleinen Bandes über die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, darauf hin, dass jeder, der eine genealogische Erforschung des Begriffs "Leben" in der gegenwärtigen Kultur versuche, am Ende feststelle, dass es als solches niemals definiert wird. Vielmehr, so behauptet Agamben, würde diese unbestimmte Sache – das Leben – durch eine Reihe von Gegensätzen immer wieder artikuliert und unterteilt, um ihr in den Wissenschaften eine Funktion zuzuschreiben, ohne dass sie jemals tatsächlich definiert würde: "Es scheint so, dass in unserer Kultur das Leben dasjenige ist, was nicht definiert werden kann, aber gerade deswegen unablässig gegliedert und geteilt werden muss".[1] Einige der erfindungsreichsten Künstler der Gegenwart – und dazu zählt Sebastian Stöhrer – finden mit ihren Werken eine visuelle Entsprechung dieser theoretischen Ausführungen und bieten somit eine Neuinterpretation der Formen des Lebens und des Lebens der Formen, wie es uns umgibt. Stöhrers keramische Kreaturen unterscheiden sich jeweils voneinander, doch gehören sie offenkundig einer Familie an. Wo sie herkommen habe ich bislang nicht herausgefunden – aus den Tiefen des Meeres, von einem anderen Planeten oder aus einer Welt, die sich mit dem Vokabular der Science-Fiction beschreiben ließe. Eines ist jedenfalls sicher: Sie stehen an einer Schwelle, an der Schwelle zum Lebendigwerden.
Daniel Birnbaum
[1] Giorgio Agamben, Das Offene: Der Mensch und das Tier, Suhrkamp, Frankfurt 2003
The first time I came across Sebastian Stöhrer’s ceramic sculptures they reminded me of microscopic imagery of microbes, organisms that are so small that they are invisible to the naked eye. For some reason I thought of them as probably living under water. When returning to them a few months later I had to think of certain science fiction creatures. A case in point: Doctor Labyrinth’s Preserving Machine, a mechanism capable of processing musical scores into living forms. There is a Brahms insect and a frightening Wagner animal, and many other bewildering organisms in which artistic genius has been turned into flesh. Philip K. Dick invented this machine, and perhaps he would have liked to illustrate his story with works by Stöhrer had he known about them. His imaginary worlds are regularly populated by forms of life that escape the categories with which we customarily attempt to grasp the realm of the living. As is usually the case with successful science fiction, these eccentric entities are not only weird, they also capture something that seems essential to our relationship to the realm of living beings: We don’t really know what it is that animate them, and we are not quite sure where to draw the line between that which is alive and that which is not. This uncertainty has only increased in our technologically altered environments, so impregnated with artificial components behaving as if they were given by nature. It seems increasingly clear that when it comes to life itself nothing is entirely clear. That is the point of departure for a number of recent theoretical approaches that leave a well-established linguistic paradigm behind to instead explore metaphors provided by the life sciences. American writer Michael Pollan, for instance, has developed a new plant neurobiology that shows how plants process information and adjust their behavior, which implies that they have the capacity to learn. Thus plants must be said to be agents. They display obvious awareness of their environment, but what makes it difficult for us to attribute consciousness to them is the drastic difference in the speed of their movements compared to our own. Plants are obviously not only alive, they are conscious in a way only symbolist poets and vitalist philosophers around 1900 imagined. Is this a new form of animism that we see taking shape in the sciences as well as in today’s art?
A recurrent desire in some of today’s most pertinent works of art is that of penetrating the stuff that surrounds us, revealing that perhaps living things aren’t, entirely; and dead things aren’t quite so, either—and making us wonder about such distinctions in the first place. No doubt similar motivations can be found in some of today’s most vociferous philosophical approaches as well, not least in those new forms of materialism that attempt to rid our thinking of the obsession with that historically overemphasized relationship between a perceiving subject and a known object. Instead, the argument often goes, we should look into other equally exciting and productive relationships in the world, consisting of so many human and nonhuman actors – technological as well as biological: digital devices and jellyfish, say, or intelligent flowers.
Some of these approaches were no doubt anticipated by thinkers that have not been at the center of theoretical discourses for a long time but today again seem topical. Ernst Haeckel, a speculative biologist and naturalist who coined such key concepts as phylum and ecology today seems more up to date than most thinkers that have worked within a paradigm based on language. In the years 1899–1904 he published Kunstformen der Natur (Art Forms of Nature), one hundred prints depicting organism many of which were first described by Haeckel himself, who with this project took an unusual step from science to art. His sketches thus create a fascinating bridge between disciplines.
Anyone undertaking an genealogical study of the concept of "life" in our culture will observe that it never gets defined as such, writes Giorgio Agamben in "Mysterium disiunctionis," a key chapter in a little book on the distinction between man and animal. Instead, he claims, this indeterminate thing – life itself – gets articulated and divided time and again through a series of oppositions that give it a function in the sciences without ever being defined as such: "That is to say, everything happens as if, in our culture, life were what cannot be defined, yet, precisely for this reason, must be ceaselessly articulated and divided."[1] These theoretical articulations are what some of today’s most imaginative artists, Sebastian Stöhrer among them, are rendering visual in works that convey a novel grasp of the forms of life and the life of forms than surround us. Stöhrer’s ceramic creatures are all highly individual, and yet they obviously belong to a family. Where they are at home, I still have not figured out – deep down in the ocean, on another planet, or in a world possible to capture in vocabularies that make us think of science fiction. One thing however is certain: they are standing on a threshold, about to come alive.
Daniel Birnbaum
[1] Giorgio Agamben, The Open: Man and Animal, translated by Kevin Attell (Stanford University Press), p. 13.